Musical composition
- Title: Fadensonnen
- Type: Musical composition
- Concept and Design: Greg Beller
- Performer: Choir (Kantorei St. Nikolai, direction Anne Michael) and Pipe Organ (Sarah Proske)
- Duration: ~10min
- World Premiere: ULTRASHALL, Hauptkirche St. Nikolai, Hamburg, Germany, the 15th of November 2025
- Production: Synekine Project, HfMT Hamburg, Innovationslabor, Ligeti Zentrum, Hauptkirche St. Nikolai
The composition is based on Paul Celan’s poem Fadensonnen (Thread Suns). Beller’s work combines the voices of the choir with organ sounds and addresses the fragile balance between finitude and hope in a vivid and cryptic way.
Herbstkonzert der Kantorei St. Nikolai am 15. November 2025, 19 Uhr, Hauptkirche St. Nikolai am Klosterstern
»Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen«
Das diesjährige Herbstkonzert der Kantorei St. Nikolai verbindet Musik und Lyrik zu einer Reflexion über Vergänglichkeit, Spiritualität und Hoffnung und führt das Thema der diesjährigen Ärztekanzel, »Brüchige Welt – Brüchiges Selbst« musikalisch fort. Im Mittelpunkt steht die Uraufführung von Greg Bellers »Fadensonnen«, inspiriert von Paul Celans gleichnamigen Gedicht. Weitere Werke sind Paul Hindemiths »Apparebit repentina dies« und »Advance Democracy« von Benjamin Britten, die durch weitere Gedichte und Texte von Celan, Hildegard von Bingen und Brecht – gesprochen von Volker Hanisch – miteinander verbunden werden. Ein Gespräch mit der Kantorin Anne Michael und dem Komponisten Greg Beller über die Entstehung des Programms.
Frau Michael, Sie haben bereits mehrfach in Meldorf thematische Konzeptkonzerte gestaltet, in denen Musik und Lyrik in einen größeren Zusammenhang treten. Wie ist das Thema dieses Abends entstanden?
ANNE MICHAEL: Ich habe mich schon länger mit der Verbindung von Musik und Lyrik beschäftigt, etwa bei einem früheren Projekt zum Thema Requiem, zur Totenmesse, in dem wir gregorianische Gesänge, zeitgenössische Musik und Texte miteinander verknüpft haben. Für das aktuelle Konzert wollte ich wieder eine inhaltliche und emotionale Klammer finden. In diesem Jahr jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal, und in dieser Auseinandersetzung bin ich erneut auf Paul Celan gestoßen. Sein Gedicht »Fadensonnen« hebt sich von vielen seiner anderen Werke ab: Es spricht nicht nur von Schmerz und Erinnerung, sondern auch von Hoffnung, von einer spirituellen, fast mantraartigen Kraft, die tröstet. Diese Dimension der Heilung, des »Immer-wieder-Aufstehens«, hat mich sehr berührt. So wurde »Fadensonnen« der Ausgangspunkt des Konzerts und auch der Impuls für die Auftragskomposition von Greg Beller.
Greg Beller, wie sind Sie an diese Idee herangegangen?
GREG BELLER: Am Anfang hatte ich verschiedene Texte im Blick zum Beispiel von Victor Hugo, aber sie waren zu komplex und zu umfangreich. Dann machte mich Anne auf diese drei Zeilen aus Celans »Fadensonnen« aufmerksam, und das war für mich wie ein Schlüssel. Der Text spricht über Musik. Ich liebe solche »Mise-en-abîme«-Momente, in denen Kunst sich selbst reflektiert. Ich spüre darin eine Verbindung zu etwas Urzeitlichem, fast wie eine Resonanz zu Urklängen oder einer Urquelle. Das erinnert mich an Mantras und spirituelle Praktiken, wie zum Beispiel den Om-Klang, der für viele eine Art Ursprung der Welt symbolisiert. Für uns im Westen könnte man das mit dem Big Bang vergleichen. Diese Verbindung zwischen innerer Quelle und Komposition hat mich sehr fasziniert und ist direkt in die Arbeit eingeflossen. In diesen drei Zeilen steckt die gesamte Dramaturgie von der Grauen Ödnis über das Licht bis zum Jenseits oder Neubeginn. Das ist wie eine innere Reise, und diese Struktur habe ich in die Komposition übertragen: in drei Abschnitte, die auch der Chor musikalisch durchlebt. Dabei arbeite ich mit pentatonischen Skalen, also Tonleitern mit fünf Tönen, die in vielen Kulturen vorkommen. Diese Skalen haben etwas Universelles. Sie erzeugen eine Harmonie, die »nicht stört«, weil sie Reibungen wie kleine Sekunden vermeidet. Außerdem habe ich überlegt, wie man diese Dramaturgie auch visuell umsetzen könnte, insbesondere in der Inszenierung des Chores, der eng mit der erzählten Narration verbunden ist. Am Anfang steht die »grau-schwarze Ödnis«, die das heutige Chaos symbolisiert und das Publikum direkt in diese Atmosphäre hineinzieht. Von dort aus entwickelt sich alles weiter: Chor, Instrumente und Musik werden nach und nach strukturiert. Am Anfang gibt es miteinander verwobene musikalische Strukturen und Motive, die sich dann allmählich zu einer weniger konzeptuellen, sensibleren und kompakteren Form entwickeln, die sich eher an der klassischen Musik orientiert.
ANNE MICHAEL: Ich finde, gerade die dramaturgische Anlage und der Aufbau dieser Komposition passen wunderbar an den Anfang unseres Konzerts. Deswegen machen wir ja Konzerte und deswegen machen wir Kunst: Weil wir bestimmte Dinge nicht mit Worten ausdrücken können. Und das ist eben auch diese grau-schwarze Ödnis: Wo kommen wir her und wo gehen wir hin? Was ist fluide? Was ist beständig? Wir leben in einer Zeit, in der vieles brüchig geworden ist, gesellschaftlich, ökologisch, spirituell. Wenn wir über das Ende, über Tod und Vergänglichkeit nachdenken, dann sind wir, ob wir das wollen oder nicht, tief von unserer christlich-abendländischen Tradition geprägt. Wir fragen: Was kommt danach? Und wir tragen immer noch dieses Bild eines richtenden Gottes in uns, eines Jüngsten Gerichts. Das hat eine enorme kulturelle Kraft: Deswegen feiern wir Totenmessen, deswegen gibt es Requien, deswegen prägen diese Rituale auch unsere Musikgeschichte. Theologisch gesehen hat sich der Protestantismus, spätestens seit Martin Luther, davon gelöst, dass unser Tun hier auf Erden über das Jenseits entscheidet. Aber faktisch leben wir noch immer in dieser Spannung. Wir handeln, als würde eine höhere Instanz über Gut und Böse urteilen.
Und da kommt Hindemith ins Spiel?
ANNE MICHAEL: Ja, genau. Paul Hindemiths »Apparebit repentina dies“« greift diese Konvention direkt auf. Der Text, eine frühmittelalterliche Dichtung, gesammelt vom Ehrwürdigen Beda, einem angelsächsischen Benediktinermönch, ist eine Art Vorläufer des Dies irae: »Erscheinen wird plötzlich der (Jüngste) Tag«, das Ende der Welt, das Gericht Gottes. Hindemith komponierte das Werk 1947, in einer Zeit, in der Europa sich aus den Trümmern des Krieges erhob. Die Musik ist streng, fast asketisch, aber zugleich von großer Intensität. Er nutzt die Pentatonik in einem strengen Satzgefüge, fast wie Greg in seiner Komposition, nur eben mit einer klassizistischen, strukturellen Schärfe. Und er macht daraus ein kleines Theater, fast ein Ritual: Er stellt die Menschheit auf die Bühne, konfrontiert sie mit dem eigenen Spiegelbild, sie sind Richter und Angeklagte zugleich. Das Stück zeigt, wie stark diese religiösen Konventionen in uns weiterwirken, auch wenn wir sie rational längst überwunden haben.
Und zwischen diesen musikalischen Polen stehen weitere Gedichte?
ANNE MICHAEL: Richtig. Die Verbindung schaffen die Rezitationen von Volker Hanisch, einem Hamburger Schauspieler und Synchronsprecher: Er beginnt mit Paul Celans »Tenebrae«, einem Text, der oft theologisch gelesen wird, der aber vor allem eine radikale Erfahrung des Menschseins beschreibt. Dieses Gedicht ist düster, hoffnungslos und beschreibt die von Menschen gemachten Grausamkeiten, die Zerrissenheit. Zwischen den Sätzen von Paul Hindemiths Werk »Apparebit repentina dies« liest Volker Hanisch Auszüge dann aus »Scivias« (lateinisch für »Wisse die Wege«), dem eindrucksvollen visionären Werk der Universalgelehrten Hildegard von Bingen. Am Ende kommt aber auch die Rückschau auf das, was die Gesellschaft letztendlich selbst geschafft hat, nämlich auch zu protestieren, also sich wieder zusammenzufinden und sich gegen diese Zerwürfnisse zu wehren.
Für diesen Protest oder Appell steht dann Benjamin Brittens Werk »Advance Democracy«?
ANNE MICHAEL: Ja, Brittens Werk ist ein leidenschaftlicher Appell gegen die Verführung durch Meinungsmache und Ideologie – und zugleich ein eindringlicher Aufruf, sich dem gefährlichen ‚Mit-dem-Strom-Schwimmen‘ zu widersetzen. Entstanden ist es 1938 als unmittelbare Reaktion auf das Münchner Abkommen. Es ist ein Chorhymnus auf die Zivilgesellschaft, auf die Fähigkeit des Menschen, Verantwortung zu übernehmen. Die Musik beginnt düster und marschartig, aber sie endet im Licht, in der Hoffnung, dass Vernunft, Gerechtigkeit und Mitgefühl Bestand haben. Und das wird dann wieder aufgelöst durch Bertolt Brecht: Sein Gedicht »An die Nachgeborenen« greift diese innere Zerrissenheit und auch die Ohnmacht, in der sich viele Menschen, ob im Krieg oder in anderen Konflikten gesehen haben, wieder auf. Hat sich unser Handeln ausgewirkt? Waren wir auf der »richtigen Seite«? Also, du musst dich immer entscheiden: Gehst du in den Widerstand, oder bist du konform? Und Bertolt Brecht verpackt das in einen Appell und sagt: Ihr müsst schon aufpassen, wie ihr urteilt. Ihr Nachgeborenen, denn ihr wisst nicht, in welcher Situation wir gelebt haben. Die getroffenen Entscheidungen haben immer Auswirkungen auf das, was als nächstes kommt und auf die Zukunft.
Dann wären wir ja wieder am Anfang und beim Motto des Konzertabends…
GREG BELLER: In der Tat. »Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen«, dieser Satz öffnet etwas. Er spricht vom Weitergehen, vom Leben jenseits des bloßen Überlebens. Musik hilft uns zu spüren, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind. Gerade heute, in einer Zeit der Vereinzelung, ist gemeinsames Singen, Hören, Zusammensein fast schon ein Akt des Widerstands. Ein Chor ist ein soziales Wesen, genau wie wir Menschen. Das ist etwas, was kein Computer ersetzen kann, so sehr er auch helfen mag, Musik zu erschaffen.
ANNE MICHAEL: Ja, und genau darum geht es: um Resonanz, um das Menschliche, um die Hoffnung.
